[Erzählung] Das letzte Band -
Informationsdienst - 14.10.12025
Im hohen, kalten Wald lebten Bruder und Schwester, Nikolai und Marja, allein in einer kleinen Hütte. Sie kannten sich wie ihre Hände: Nikolai lachte, wenn der Wind die Birken klingeln ließ, Marja summte, wenn sie Brot buk. Als eines Tages Hunger und Kälte sie besonders schwer trafen, stieß Nikolai beim Suchen auf eine verborgene Quelle im Wald. Er beugte sich und trank. Im selben Augenblick wuchs in ihm etwas Fremdes: sein Schritt wurde schwer, sein Blick tiefer, sein Herz wild. In einer Nacht von rauer Größe wurde Nikolai zum Bären.
Marja floh nicht. Sie band ihm Brot an ein Band, säuberte seinen Pelz, sprach mit ihm stundenlang und nannte ihm alle Geschichten aus ihrer Kindheit, bis er wieder ruhig atmete. Doch der Bann blieb. Manchmal sah sie noch ein Flackern des alten Nikolai in seinen Augen, davon lebte sie. Sie bettete ihn unter den Fichten und webte ihm Bänder, damit er bei ihr blieb.
Es war Baba Jaga, die eines Morgens aus dem Nebel trat, erst freundlich, dann wie ein Messer hinter Samt. „Ich kann dir geben, was du begehrst“, sagte sie. Marja, müde und mit leerer Küche, hörte: ein warmes Haus, Vorräte, Kleidung, Schutz. Baba Jaga forderte nichts Großes anfangs: ein Band, das Marja in der Hütte fand; ein Lied, das sie vergessen sollte; eine Nacht ohne Schlaf. Jede Gab und jedes Geben schien harmlos, ein kleiner Tausch, ein Schritt näher an der Erlösung.
Doch Baba Jaga war listig. Ihre Angebote wurden größer, ein Ofen aus Kupfer, Kleidung wie von Fürsten, Schönheit, so dass die Leute die Augen nicht abwenden könnten. Jedes Geschenk nahm Marja etwas von der einen Kostbarkeit, die sie noch hielt: ein zartes Erinnern an Nikolais Lachen, die Erinnerung an den Weg durch den Wald, dann seine Kindheitsnamen für sie. Die erste Male gab sie mit leichtem Herzen. „Ich gebe dir nur eine Erinnerung hinüber, nur ein Wort“, flüsterte sie, und Baba Jaga lächelte und reichte etwas glänzendes zurück.
Mit jedem Handel verflüchtigte sich etwas in Marja. Das Band zwischen den Geschwistern wurde dünner. Wo früher Bilder von Nikolai lebten, wie er einmal eine Fliege verscheuchte, wie er ihr beim Dach reparieren half - da blieb ein blasses Muster. Marja begann, sich über die neuen Dinge zu freuen: die wärmende Stube, die fremden Kleider, das Lachen der Nachbarn, die sie plötzlich bemerkten. Doch wenn sie zu Nikolai zurückkehrte, spürte sie eine Leere im Raum, die sie nicht mit Worten füllen konnte.
Baba Jaga verlangte zuletzt das zu zahlen, was sie am meisten brauchte: die Sprache seines Namens in ihrer Brust. „Gib mir den Namen, wie du ihn rufst, wenn die Nacht am dunkelsten ist“, sagte die Hexe. „Dann wird er wie du.“ Marja, mit müden Händen und der Sehnsucht nach einem Ende all der Sorge, willigte ein. Sie sprach und löste das letzte Band. Baba Jaga nickte zuvorkommend und schenkte ihr einen prächtigen Spiegel, in dem Marja mit fremden Augen ihre neue Gestalt betrachtete.
Als sie in den tiefen Wald zurückkehrte, war es Abend. Nikolai, der Bär, schlief schwer und tief. Marja kniete, legte die Hand an sein Fell und probeweise flüsterte sie den Namen, der einst alles bedeutet hatte. Der Name kam ihr fremd vor; er glitt aus ihr ohne Wärme. Sie suchte nach dem Klang des Bruders, nach dem Echo, das immer zurückgekommen war, aber das Echo war gegangen. In ihr war viel genommen, doch von ihm war nichts zurück.
Der Bär erwachte. Nicht mit dem Erkennen eines Bruders, nicht mit dem Blicke eines Vertrauens. Er war ein Wesen, das nur die Regeln des Waldes kannte. Er schnupperte, sah Marja, etwas Urzeitliches lautete in seinem Blick. Es gab keinen Moment des Wiedererkennens. In einem Augenblick, so schnell wie Regen, stürzte der Bär auf sie zu. Es war keine Rache, keine gezielte Bosheit - nur das Tier, dessen Erinnerung an Nikolai längst erloschen war. Marja fiel. Der Wald schwieg.
Später erzählten die Leute am Dorffeuer, dass eine prächtige Hütte im Wald stände, voll Kupfer und Teppich, eine Frau lebte darin, mit leerem Blick und ohne Wärme im Herzen.
Baba Jaga aber setzte sich in ihrer Hütte auf Hühnerbeine und schärfte ihre Pfeife. Sie lächelte nicht über das, was sie genommen hatte; sie zählte nur Fäden und Schimmer und legte die Namen in eine Schublade, kalt und schwer. Sie hatte der Schwester alles gegeben, was sie versprach und die Schwester hatte dabei vergessen zu fragen, was noch wichtiger gewesen wäre: ob das, was man angeboten bekam, wirklich das war, was man brauchte.
So endete die Geschichte der Geschwister: nicht mit der Rückkehr, die Marja ersehnt hatte, sondern mit einer Lehre, die bitterer war als alle Gaben der Baba Jaga. Manche Zahlungen sind so beschaffen, dass man erst nach der Rechnung sieht, wie hoch sie war.